1. Liebe Forumsgemeinde,

    aufgrund der Bestimmungen, die sich aus der DSGVO ergeben, müssten umfangreiche Anpassungen am Forum vorgenommen werden, die sich für uns nicht wirtschaftlich abbilden lassen. Daher haben wir uns entschlossen, das Forum in seiner aktuellen Form zu archivieren und online bereit zu stellen, jedoch keine Neuanmeldungen oder neuen Kommentare mehr zuzulassen. So ist sichergestellt, dass das gesammelte Wissen nicht verloren geht, und wir die Seite dennoch DSGVO-konform zur Verfügung stellen können.
    Dies wird in den nächsten Tagen umgesetzt.

    Wir danken allen, die sich in den letzten Jahren für Hilfesuchende und auch für das Forum selbst engagiert haben.

Irgendwas stimmt nicht...

Dieses Thema im Forum "Small Talk" wurde erstellt von benjii, 28. Februar 2003.

  1. tazmandevil

    tazmandevil New Member

    jo, weil die höheren erschienen mir plötzlich doch etwas übertrieben... oder doch nicht?
     
  2. benjii

    benjii New Member

    giadello, ich denke, wir werden uns letztendlich unter dem Oberbegriff "Ansichtssache" einigen müssen...

    Ein paar Anmerkungen habe ich dennoch zu deinem Posting:

    Mit "Gier" meine ich nicht durchaus sinnvolle Verhaltensweisen in wirtschaftlich herben Zeiten. Ich meine es anders: In der modernen Moralphilosophie wird die "Sünde" Geiz etwa so gesehen, dass durch eine extreme Fixierung auf materielle Güter und die Unfähigkeit, zu geben, eine enorme Beschränkung der menschlichen Gefühlswelt stattfindet - und dass deshalb der Mensch an einem wirklich erfüllten Leben vorbei geht. Da ist was dran, finde ich.

    Deiner Meinung zum Thema Pauschalisierungen stimme ich zu. Trotzdem meine ich, in der vergangenen Dekade auch bei mir im Familien- und Freundeskreis eine tatsächliche Verringerung des Interesses am Zustand dieser Gesellschaft (Diskussionen darüber werden als "zu schwierig" empfunden) und gleichzeitig parallel eine starke Zunahme des Egoismus erlebt zu haben. Ich erinnere mich etwa noch gut an die Diskussion mit meinen Börsen-zockenden Freunden über das Thema, zehn Prozent ihres "Börsen-Spielgelds" doch für ein Sozial- oder Entwicklungshilfeprojekt auszugeben... Jetzt, im Nachhinein gesehen, wäre es wohl die hundertmal sinnvollere Investition gewesen.

    Natürlich weiß ich außer dem, was in den Bücher steht, auch nichts darüber, wie es früher war. Aber ich denke, das Thema Gerechtigkeit steht für jede Generation neu auf der Tagesordnung und muss jedes Mal neu entschieden und definiert werden. Ich halte deshalb auch nichts von deinem Verweis darauf, dass es früher womöglich auch schlecht war. Also zucken wir jetzt mit der Schulter und vergessen das Ganze - früher war's ja genau so?

    Alles dabei den Medien in die Schuhe zu schieben, ist vielleicht einfach, aber wird dem Ganzen meiner Meinung nach ebenfalls nicht gerecht. Die Medien machen, wie ihr Name schon sagt, immer noch in den wenigsten Fällen die Ereignisse, sondern transportieren sie. In der Antike, so wird kolportiert, wurde dem Überbringer schlechter Botschaften der Kopf abgeschlagen. Das ist natürlich lächerlich - aber den Spiegel-Rechercheuren die Schuld am Kindesmissbrauch zu geben, ist ebenfalls nicht besonders helle, finde ich. Und ich bemerke auch ein gewisses Unbehagen bei dir, dass der Spiegel überhaupt darüber berichtet hat. Wäre es dir lieber, das Ganze wäre unter einer Decke des Schweigens geblieben?

    Natürlich denke ich nicht, dass die Täter in Saarbrücken Nietzsche gelesen haben. Aber es ist tatsächlich ein erschreckender Verlust von Werten, der nicht nur da offenbar wird. Ich denke weiterhin, dass nach den Ursachen gefragt werden muss und dass Ignoranz und Gleichgültigkeit kein ausreichendes Mittel dagegen sind.

    Für verhängnisvoll halte ich dabei vor allem den Zynismus. Zynische oder sarkastische Haltungen entstehen ja (frei nach Sloterdijk) dann, wenn mit dem richtigen Bewusstsein etwas Falsches getan wird... Das heißt, man weiß, wie es richtig wäre, tut und sagt aber das Falsche - aus Hilflosigkeit, aus Bequemlichkeit oder aus Enttäuschung heraus.

    Ansonsten - natürlich lasse ich meine Bedenken ungern als "pubertären Weltschmerz" bezeichnen. Und auch wenn es momentan nicht sonderlich populär sein sollte - ich finde es weiterhin legitim und notwendig, sich kritische Gedanken über den Zustand dieser Gesellschaft zu machen. Ich habe auch nicht vor, auszuwandern, sondern will hier in einer annehmbaren Welt leben. Und ich weiß nicht, warum ein Studium oder Sozialarbeit diese Kritik mildern sollte.

    Ich denke, du hast Recht - außer Sarkasmus hast du nicht viel zu bieten.
     
  3. Giadello

    Giadello New Member

    benjii:

    Fangen wir mit dem Satz an, der meine ungeteilte Zustimmung bekommt: ich finde es weiterhin legitim und notwendig, sich kritische Gedanken über den Zustand dieser Gesellschaft zu machen.
    Ich auch. Nur lasse ich den etwas weinerlichen Zusatz weg, ich tue dies trotz des anachronistisch scheinenden Touches dieses Ansinnens. Und ich pumpe Beobachtungen aus meinem Bekanntenkreis nicht zum Fundament einer Gesellschaftskritik auf. Aber egal.

    Zwei Dinge mag ich in Diskussionen überhaupt net  und ich bin mir nicht ganz sicher, was ich mehr verabscheue: überbordende Pauschalisierungen oder Argumente, die man mir in den Mund legt.

    - Weder hat Convi noch habe ich alles den Medien in die Schuhe geschoben. Somit hat auch keiner von uns beiden behauptet, das sie irgend was anderes tun, als Nachrichten zu transportieren. Allerdings haben wir uns Gedanken darüber gemacht, was durch diesen Nachrichtentransport (der sich im Gegensatz zu den Verbrechen in den letzten 100 Jahren doch verändert hat) für ein Gesellschaftsbild entsteht.

    - Mir Unbehagen über den SPIEGEL-Bericht zu unterstellen, grenzt schon an Dummheit, zeugt aber mindestens von ungenauem Lesen in Verbindung mit locker sitzenden Vorurteilen. Da ich keine Ahnung habe, wie Du darauf kommst, nur ein generelles Wort zu meinem SPIEGEL-Verhältnis: mir ist er oft etwas zu bauschig - auch aus dürren Fakten kann ein Aufreger gemacht werden. Sehr schön zu sehen ist das an den diversen auch hier geposteten Irak- Neuigkeiten. In den Meldungen werden Faktenfragmente oder einfach nur Gerüchte solange aufgepumpt/ aufgebauscht, bis die Meldung in ein paar Zeilen zwar eine Tendenz, aber keinen wirklichen Nachrichtenwert hat. Auch in längeren Artikeln wird so etwas hin und wieder gemacht, wenn Fakten fehlen. Bevor Du Dich jetzt aufregst: Nein, den von quick gelingten SPIEGEL-Artikel habe ich immer noch nicht gelesen, ich kann ihn also nicht meinen mit meiner generellen Kritik.

    ---

    Ich zucke nicht mit der Schulter, weil es früher genau so war. Ich unterlasse das Zucken, obwohl ich weiß, daß es früher, also vor dem relativen Reichtum der Industriestaaten durchaus schlimmer war, Kind zu sein  jedenfalls in den größten Gesellschaftsschichten. Genau so wie es heute noch außerhalb der ersten Welt kein Zuckerschlecken ist.
    Wie läuft das ab, wenn Generationen das Thema Gerechtigkeit auf die Tagesordnung setzen und darüber entscheiden? Wie war das mit dem Pauschalisieren?
    Gerechtigkeit ist ein höchst empfindlicher Gradmesser  und dessen Feinjustierung sollte jeder Mensch für sich übernehmen. Je nach Prägung, individuellen Weltbild und persönlicher Erfahrung wird ein Gefühl für Gerechtigkeit entwickelt, welches permanent prüft und auch selbst Prüfungen unterzogen wird.
    Ob ich etwas (zum Beispiel Güterverteilung) als gerecht emfinde, hängt von meiner Persönlichkeit, meinem Elternhaus (ob positiv oder negativ spielt keine Rolle), meiner Bildung, meinem Umfeld, meinen Erfahrungen und auch ein wenig von meinem Lebensabschnitt ab. Daß es hier innerhalb der gleichen Generation auch Parallelen gibt, will ich gar nicht bestreiten  die erlebte Zeitgeschichte prägt. Aber selbst diese kann selbst in einer Klassengemeinschaft oder einem Freundeskreis verschieden aufgenommen werden.
    Es gibt nicht die Gerechtigkeit. Weder unter Generationen noch in Ländern. Dafür gibt es das Recht und die Rechtsfindung. Womit wir bei den nicht Nietzsche lesenden Tätern wären. Fällt Dir nichts auf? Du beklagst, daß sie die Werte verloren hätten. Aber steht nicht gerade ein völlig anderes Werteverständnis vor dem Begehen einer Straftat? Entweder hat ein vorsätzlicher Verbrecher ein anderes Wertesystem  oder er geht zwar mit dem in der Gesellschaft und ihren Gesetzen gültigen Wertesystem konform, stellt eigene Belange (oder die eigene Person) jedoch über das Recht; sein Wert übertrumpft die anderen Werte.

    Ähem.
    Lange Rede, kleiner Sinn. Mit pauschalem Gejammer über unsere Gesellschaft und den Werteverfall stößt Du bei mir auf taube Ohren. Und wenn Dein Freundeskreis plötzlich den Egoismus entdeckt hat, ist das kein hinreichendes Indiz für ein ebensolches Streben in der Restgesellschaft.
    Wir beide können reden über: Kriminalitätsstatistiken von früher und jetzt, über eine Soziologie der Kindheit, über den Wandel der Aufmacher in der Geschichte der modernen Medien. Aber bitte nicht über eine Gesellschaft, die Du am Abgrund wähnst.
    Solche Gespräche sind schwierig, da haben Deine Freunde schon recht. Aber man tut weder den Freunden noch dem Thema einen Gefallen, wenn man Komplexität mit einem Holzhammervorurteil erschlägt, welches seit Jahrtausenden Konjunktur hat.
     
  4. benjii

    benjii New Member

    giadello, ein paar Sachen zum Schluss der Debatte von meiner Seite:

    - im Zusammenhang mit dem Missbrauch und Mord an Kindern halte ich Diskussionen darüber, dass der Gerechtigkeits-Begriff subjektiv ist und von jedem anders gesehen wird, für verfehlt

    - wenn du mit etwas offenen Augen durch die Welt der vergangenen Jahre gegangen wärst, hättest du gesehen, dass diese "Börsen-Euphorie" ein Fieber war, das weite Teile der Gesellschaft ergriffen hat

    - ich denke weiterhin, dass so Taten wie die in Saarbrücken eine erschreckendes Bild über den Zustand unserer Gesellschaft liefern. Und ich immer noch der Meinung, dass darüber diskutiert werden sollte, anstatt pauschal alle Bedenken wegzuwischen und als "weinerlich" abzutun.

    - du hättest den Spiegel-Artikel lesen sollen
     
  5. Giadello

    Giadello New Member

    Zu 1:
    Oh nein. Gerade nicht. Nimm zB rein hypothetisch die Mutter des Jungen. Wann ist für sie Gerechtigkeit erreicht? Wenn die Täter hinter Gitter sitzen? Wenn sie dort Leuten in die Hände fallen, die was gegen Kindesmißbrauch haben? Oder wenn die Täter bei einer Festnahme im Polizeikugelhagel sterben?
    Oder keine dieser Alternativen, weil es dafür keine "Gerechtigkeit" gibt?

    Zu 2:
    Wann ist ein Teil der Gesellschaft "breit"? (Schließlich braucht man Geld oder Bonität, um zu "zocken" - das schließt viele aus.)
    Und: haben die Menschen vielleicht mit ganz unterschiedlichen Motiven ihr Geld angelegt? Ist jeder Aktienbesitzer "gierig"?

    Zu 3:
    Ich wische keine Bedenken weg. Ich versuche nur, Dir seit mehreren Beiträgen näher zu bringen, daß die "Gesellschaft" ein zu nebulöser und weitgefaßter Begriff ist, um sie ernsthaft zu diskutieren.

    Zu 4:
    Erledigt. Und nun? Hat "die Gesellschaft" Pascal auf dem Gewissen? Oder nicht doch eher verkommene Subjekte, für die "die Gesellschaft" als deren Opfer sich viele gerieren, eine willkommener, wenn auch billige Ausflucht böte?
     
  6. benjii

    benjii New Member

    giadello, jetzt doch noch mal eine Antwort von mir:

    Klar, so, wie du den Gerechtigkeits-Begriff siehst, ist es natürlich Ansichtssache. Ich meinte es anders: Missbrauch und Mord an einem Fünfjährigen ist nicht gerecht, da kann nicht abgewogen werden.

    Zum Thema Börse: Natürlich kann ich nicht für "jeden" Aktienbesitzer reden. Aber von denjenigen, die ich kenne oder befragt habe (und es sind nicht wenige), sind in den vergangenen Jahren viele von einer "Gier" erfasst worden. Gesellschaft ist für mich übrigens nicht abstrakt, sondern sehr real - das Gespräch, das wir hier führen, ist etwa ein Teil davon. Wir sind nicht nur Einzelne, wir tragen ein Stück Verantwortung für das Ganze.

    Aber ich kann nachvollziehen, dass dich generelle Pauschalisierungen nerven. Kannst du nicht im Gegenzug verstehen, dass sich Leute ernsthaft Gedanken machen, wie so Taten geschehen können?
     
  7. Convenant

    Convenant Haarfestiger

    >Kannst du nicht im Gegenzug verstehen, dass sich Leute ernsthaft Gedanken machen, wie so Taten geschehen können?

    Jetzt wird's aber polemisch. Wenn sich Menschen ernsthaft mit so etwas auseinander setzen wollen, dann möchten sie doch bitte vernünftig zu recherchieren beginnen. Dann sollte hier auch nicht nicht wild um sich postuliert werden, von wegen Wertezerfall, dann will ich Belege sehen. Wie oft in der Geschichte hat schon das alte o tempora o mores als Begründung einer aufgestellten These herhalten müssen. Und ich will jetzt keinen Link auf Deutschland sucht den Superstar.
     
  8. benjii

    benjii New Member

    giadello, ich denke, wir werden uns letztendlich unter dem Oberbegriff "Ansichtssache" einigen müssen...

    Ein paar Anmerkungen habe ich dennoch zu deinem Posting:

    Mit "Gier" meine ich nicht durchaus sinnvolle Verhaltensweisen in wirtschaftlich herben Zeiten. Ich meine es anders: In der modernen Moralphilosophie wird die "Sünde" Geiz etwa so gesehen, dass durch eine extreme Fixierung auf materielle Güter und die Unfähigkeit, zu geben, eine enorme Beschränkung der menschlichen Gefühlswelt stattfindet - und dass deshalb der Mensch an einem wirklich erfüllten Leben vorbei geht. Da ist was dran, finde ich.

    Deiner Meinung zum Thema Pauschalisierungen stimme ich zu. Trotzdem meine ich, in der vergangenen Dekade auch bei mir im Familien- und Freundeskreis eine tatsächliche Verringerung des Interesses am Zustand dieser Gesellschaft (Diskussionen darüber werden als "zu schwierig" empfunden) und gleichzeitig parallel eine starke Zunahme des Egoismus erlebt zu haben. Ich erinnere mich etwa noch gut an die Diskussion mit meinen Börsen-zockenden Freunden über das Thema, zehn Prozent ihres "Börsen-Spielgelds" doch für ein Sozial- oder Entwicklungshilfeprojekt auszugeben... Jetzt, im Nachhinein gesehen, wäre es wohl die hundertmal sinnvollere Investition gewesen.

    Natürlich weiß ich außer dem, was in den Bücher steht, auch nichts darüber, wie es früher war. Aber ich denke, das Thema Gerechtigkeit steht für jede Generation neu auf der Tagesordnung und muss jedes Mal neu entschieden und definiert werden. Ich halte deshalb auch nichts von deinem Verweis darauf, dass es früher womöglich auch schlecht war. Also zucken wir jetzt mit der Schulter und vergessen das Ganze - früher war's ja genau so?

    Alles dabei den Medien in die Schuhe zu schieben, ist vielleicht einfach, aber wird dem Ganzen meiner Meinung nach ebenfalls nicht gerecht. Die Medien machen, wie ihr Name schon sagt, immer noch in den wenigsten Fällen die Ereignisse, sondern transportieren sie. In der Antike, so wird kolportiert, wurde dem Überbringer schlechter Botschaften der Kopf abgeschlagen. Das ist natürlich lächerlich - aber den Spiegel-Rechercheuren die Schuld am Kindesmissbrauch zu geben, ist ebenfalls nicht besonders helle, finde ich. Und ich bemerke auch ein gewisses Unbehagen bei dir, dass der Spiegel überhaupt darüber berichtet hat. Wäre es dir lieber, das Ganze wäre unter einer Decke des Schweigens geblieben?

    Natürlich denke ich nicht, dass die Täter in Saarbrücken Nietzsche gelesen haben. Aber es ist tatsächlich ein erschreckender Verlust von Werten, der nicht nur da offenbar wird. Ich denke weiterhin, dass nach den Ursachen gefragt werden muss und dass Ignoranz und Gleichgültigkeit kein ausreichendes Mittel dagegen sind.

    Für verhängnisvoll halte ich dabei vor allem den Zynismus. Zynische oder sarkastische Haltungen entstehen ja (frei nach Sloterdijk) dann, wenn mit dem richtigen Bewusstsein etwas Falsches getan wird... Das heißt, man weiß, wie es richtig wäre, tut und sagt aber das Falsche - aus Hilflosigkeit, aus Bequemlichkeit oder aus Enttäuschung heraus.

    Ansonsten - natürlich lasse ich meine Bedenken ungern als "pubertären Weltschmerz" bezeichnen. Und auch wenn es momentan nicht sonderlich populär sein sollte - ich finde es weiterhin legitim und notwendig, sich kritische Gedanken über den Zustand dieser Gesellschaft zu machen. Ich habe auch nicht vor, auszuwandern, sondern will hier in einer annehmbaren Welt leben. Und ich weiß nicht, warum ein Studium oder Sozialarbeit diese Kritik mildern sollte.

    Ich denke, du hast Recht - außer Sarkasmus hast du nicht viel zu bieten.
     
  9. Giadello

    Giadello New Member

    benjii:

    Fangen wir mit dem Satz an, der meine ungeteilte Zustimmung bekommt: ich finde es weiterhin legitim und notwendig, sich kritische Gedanken über den Zustand dieser Gesellschaft zu machen.
    Ich auch. Nur lasse ich den etwas weinerlichen Zusatz weg, ich tue dies trotz des anachronistisch scheinenden Touches dieses Ansinnens. Und ich pumpe Beobachtungen aus meinem Bekanntenkreis nicht zum Fundament einer Gesellschaftskritik auf. Aber egal.

    Zwei Dinge mag ich in Diskussionen überhaupt net  und ich bin mir nicht ganz sicher, was ich mehr verabscheue: überbordende Pauschalisierungen oder Argumente, die man mir in den Mund legt.

    - Weder hat Convi noch habe ich alles den Medien in die Schuhe geschoben. Somit hat auch keiner von uns beiden behauptet, das sie irgend was anderes tun, als Nachrichten zu transportieren. Allerdings haben wir uns Gedanken darüber gemacht, was durch diesen Nachrichtentransport (der sich im Gegensatz zu den Verbrechen in den letzten 100 Jahren doch verändert hat) für ein Gesellschaftsbild entsteht.

    - Mir Unbehagen über den SPIEGEL-Bericht zu unterstellen, grenzt schon an Dummheit, zeugt aber mindestens von ungenauem Lesen in Verbindung mit locker sitzenden Vorurteilen. Da ich keine Ahnung habe, wie Du darauf kommst, nur ein generelles Wort zu meinem SPIEGEL-Verhältnis: mir ist er oft etwas zu bauschig - auch aus dürren Fakten kann ein Aufreger gemacht werden. Sehr schön zu sehen ist das an den diversen auch hier geposteten Irak- Neuigkeiten. In den Meldungen werden Faktenfragmente oder einfach nur Gerüchte solange aufgepumpt/ aufgebauscht, bis die Meldung in ein paar Zeilen zwar eine Tendenz, aber keinen wirklichen Nachrichtenwert hat. Auch in längeren Artikeln wird so etwas hin und wieder gemacht, wenn Fakten fehlen. Bevor Du Dich jetzt aufregst: Nein, den von quick gelingten SPIEGEL-Artikel habe ich immer noch nicht gelesen, ich kann ihn also nicht meinen mit meiner generellen Kritik.

    ---

    Ich zucke nicht mit der Schulter, weil es früher genau so war. Ich unterlasse das Zucken, obwohl ich weiß, daß es früher, also vor dem relativen Reichtum der Industriestaaten durchaus schlimmer war, Kind zu sein  jedenfalls in den größten Gesellschaftsschichten. Genau so wie es heute noch außerhalb der ersten Welt kein Zuckerschlecken ist.
    Wie läuft das ab, wenn Generationen das Thema Gerechtigkeit auf die Tagesordnung setzen und darüber entscheiden? Wie war das mit dem Pauschalisieren?
    Gerechtigkeit ist ein höchst empfindlicher Gradmesser  und dessen Feinjustierung sollte jeder Mensch für sich übernehmen. Je nach Prägung, individuellen Weltbild und persönlicher Erfahrung wird ein Gefühl für Gerechtigkeit entwickelt, welches permanent prüft und auch selbst Prüfungen unterzogen wird.
    Ob ich etwas (zum Beispiel Güterverteilung) als gerecht emfinde, hängt von meiner Persönlichkeit, meinem Elternhaus (ob positiv oder negativ spielt keine Rolle), meiner Bildung, meinem Umfeld, meinen Erfahrungen und auch ein wenig von meinem Lebensabschnitt ab. Daß es hier innerhalb der gleichen Generation auch Parallelen gibt, will ich gar nicht bestreiten  die erlebte Zeitgeschichte prägt. Aber selbst diese kann selbst in einer Klassengemeinschaft oder einem Freundeskreis verschieden aufgenommen werden.
    Es gibt nicht die Gerechtigkeit. Weder unter Generationen noch in Ländern. Dafür gibt es das Recht und die Rechtsfindung. Womit wir bei den nicht Nietzsche lesenden Tätern wären. Fällt Dir nichts auf? Du beklagst, daß sie die Werte verloren hätten. Aber steht nicht gerade ein völlig anderes Werteverständnis vor dem Begehen einer Straftat? Entweder hat ein vorsätzlicher Verbrecher ein anderes Wertesystem  oder er geht zwar mit dem in der Gesellschaft und ihren Gesetzen gültigen Wertesystem konform, stellt eigene Belange (oder die eigene Person) jedoch über das Recht; sein Wert übertrumpft die anderen Werte.

    Ähem.
    Lange Rede, kleiner Sinn. Mit pauschalem Gejammer über unsere Gesellschaft und den Werteverfall stößt Du bei mir auf taube Ohren. Und wenn Dein Freundeskreis plötzlich den Egoismus entdeckt hat, ist das kein hinreichendes Indiz für ein ebensolches Streben in der Restgesellschaft.
    Wir beide können reden über: Kriminalitätsstatistiken von früher und jetzt, über eine Soziologie der Kindheit, über den Wandel der Aufmacher in der Geschichte der modernen Medien. Aber bitte nicht über eine Gesellschaft, die Du am Abgrund wähnst.
    Solche Gespräche sind schwierig, da haben Deine Freunde schon recht. Aber man tut weder den Freunden noch dem Thema einen Gefallen, wenn man Komplexität mit einem Holzhammervorurteil erschlägt, welches seit Jahrtausenden Konjunktur hat.
     
  10. benjii

    benjii New Member

    giadello, ein paar Sachen zum Schluss der Debatte von meiner Seite:

    - im Zusammenhang mit dem Missbrauch und Mord an Kindern halte ich Diskussionen darüber, dass der Gerechtigkeits-Begriff subjektiv ist und von jedem anders gesehen wird, für verfehlt

    - wenn du mit etwas offenen Augen durch die Welt der vergangenen Jahre gegangen wärst, hättest du gesehen, dass diese "Börsen-Euphorie" ein Fieber war, das weite Teile der Gesellschaft ergriffen hat

    - ich denke weiterhin, dass so Taten wie die in Saarbrücken eine erschreckendes Bild über den Zustand unserer Gesellschaft liefern. Und ich immer noch der Meinung, dass darüber diskutiert werden sollte, anstatt pauschal alle Bedenken wegzuwischen und als "weinerlich" abzutun.

    - du hättest den Spiegel-Artikel lesen sollen
     
  11. Giadello

    Giadello New Member

    Zu 1:
    Oh nein. Gerade nicht. Nimm zB rein hypothetisch die Mutter des Jungen. Wann ist für sie Gerechtigkeit erreicht? Wenn die Täter hinter Gitter sitzen? Wenn sie dort Leuten in die Hände fallen, die was gegen Kindesmißbrauch haben? Oder wenn die Täter bei einer Festnahme im Polizeikugelhagel sterben?
    Oder keine dieser Alternativen, weil es dafür keine "Gerechtigkeit" gibt?

    Zu 2:
    Wann ist ein Teil der Gesellschaft "breit"? (Schließlich braucht man Geld oder Bonität, um zu "zocken" - das schließt viele aus.)
    Und: haben die Menschen vielleicht mit ganz unterschiedlichen Motiven ihr Geld angelegt? Ist jeder Aktienbesitzer "gierig"?

    Zu 3:
    Ich wische keine Bedenken weg. Ich versuche nur, Dir seit mehreren Beiträgen näher zu bringen, daß die "Gesellschaft" ein zu nebulöser und weitgefaßter Begriff ist, um sie ernsthaft zu diskutieren.

    Zu 4:
    Erledigt. Und nun? Hat "die Gesellschaft" Pascal auf dem Gewissen? Oder nicht doch eher verkommene Subjekte, für die "die Gesellschaft" als deren Opfer sich viele gerieren, eine willkommener, wenn auch billige Ausflucht böte?
     
  12. benjii

    benjii New Member

    giadello, jetzt doch noch mal eine Antwort von mir:

    Klar, so, wie du den Gerechtigkeits-Begriff siehst, ist es natürlich Ansichtssache. Ich meinte es anders: Missbrauch und Mord an einem Fünfjährigen ist nicht gerecht, da kann nicht abgewogen werden.

    Zum Thema Börse: Natürlich kann ich nicht für "jeden" Aktienbesitzer reden. Aber von denjenigen, die ich kenne oder befragt habe (und es sind nicht wenige), sind in den vergangenen Jahren viele von einer "Gier" erfasst worden. Gesellschaft ist für mich übrigens nicht abstrakt, sondern sehr real - das Gespräch, das wir hier führen, ist etwa ein Teil davon. Wir sind nicht nur Einzelne, wir tragen ein Stück Verantwortung für das Ganze.

    Aber ich kann nachvollziehen, dass dich generelle Pauschalisierungen nerven. Kannst du nicht im Gegenzug verstehen, dass sich Leute ernsthaft Gedanken machen, wie so Taten geschehen können?
     
  13. Convenant

    Convenant Haarfestiger

    >Kannst du nicht im Gegenzug verstehen, dass sich Leute ernsthaft Gedanken machen, wie so Taten geschehen können?

    Jetzt wird's aber polemisch. Wenn sich Menschen ernsthaft mit so etwas auseinander setzen wollen, dann möchten sie doch bitte vernünftig zu recherchieren beginnen. Dann sollte hier auch nicht nicht wild um sich postuliert werden, von wegen Wertezerfall, dann will ich Belege sehen. Wie oft in der Geschichte hat schon das alte o tempora o mores als Begründung einer aufgestellten These herhalten müssen. Und ich will jetzt keinen Link auf Deutschland sucht den Superstar.
     
  14. benjii

    benjii New Member

    Nein, convi, ich hab' diesen Satz nicht polemisch gemeint, sondern als eine Art Kompromissangebot. Aber wenn du Polemik bemängelst, wirst du sie wohl auch auf beiden Seiten der Beiträge hier finden...

    Im Grunde muss ich auch sagen, dass es mich erstaunt, welchen Verlauf dieser Thread hier nimmt. Ich wollte viel eher in eine Richtung Diskussion über die Grundlagen von Moral im Menschen - das hätte mich interessiert, und da habe ich in letzter Zeit auch viel darüber gelesen.

    Ich muss jetzt aber feststellen, dass ich mich hier seit mehreren Tagen rechtfertigen muss wegen zwei Sätzen, nämlich der Kritik an der "Gier" und der "Habsucht" - Sachen, die ich eher beiläufig erwähnt habe.

    Diese allergischen Reaktionen geben mir schon zu denken - und ich frage mich wirklich, ob ich hier derjenige bin, der das Thema "Wertezerfall" am Wichtigsten nimmt. Denn ansonsten wäre es doch ein Leichtes, sich unaufgeregt darüber zu unterhalten.

    In diesem Sinne möchte ich jetzt wirklich die Diskussion von meiner Seite schließen. Denn Polemik und Aggressivität hat dieses Forum in den vergangenen Wochen schon genug erlebt, und ich hege schon die Befürchtung, dass dieser Thread einen unguten Verlauf in diese Richtung nimmt.

    Aber ich kann mich nur noch einmal wiederholen - ich habe den Beitrag oben nicht polemisch gemeint.

    Grüße,

    benjii
     
  15. Convenant

    Convenant Haarfestiger

    >nämlich der Kritik über der "Gier" und die "Habsucht" - Sachen, die ich eher beiläufig erwähnt habe.

    Nun, mit solcherlei ehemaligen Todsünden wird ja schon des längeren kokettiert, da passt nicht nur diese unsägliche Geiz ist Geil Botschaft von Saturn hinein, auch L'Oreal wirbt mit Neid, Habgier, Wollust, Eitelkeit etc. inzwischen in ihren Werbespots als folge deinem Instinkt. Aber hieraus gleich einen Werteverlust in der Gesellschaft abzuleiten greift doch ein wenig hoch. Obwohl es schon ein wenig bezeichnend ist für unsere kalte Warenwelt.
     
  16. Macmacfriend

    Macmacfriend Active Member

    @Convenant
    @Giadello

    Ich persönlich würde, wie schon in meinem ersten Posting an benjii, eher von einem Wertewandel sprechen. Die zunehmende Säkularisierung und Individualisierung der Gesellschaft sind nicht zu übersehen. Die von Giadello und dir erbetenen Belege finden sich in verschiedensten Quellen. Zu nennen wäre bspw. die jährlich vorgelgte Shell-Studie. Sie belegt ein gestiegenes Desinteresse an politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen bei jungen Menschen zugunsten eines Rückzuges ins private Vergnügen. Die amtliche Kriminalstatistik zeigt in den vergangenen 10-15 Jahren eine deutliche Zunahme an Betrugs- und Vermögensdelikten sowie eine Zunahme der Gewalttaten insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Man denke an die Gewalt an Schulen, die es in dieser Qualität und Quantität bislang noch nicht gab. Zahlreiche soziologische Studien belegen inzwischen eine deutliche Partikularisierung der Gesellschaft. Klassische soziale Netze und Schutzräume wie Familien, Vereine usw. zerfallen zusehends; der Trend geht zu Patchwork-Gebilden, Single-Haushalten und Alleinerziehern. Die Gesundheitsstatistiken belegen zudem, dass kein Krankheitsbild in den letzten Jahren derart zugenommen hat wie das des psychischen Formenkreises. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Hätte es keinen negativen Wertewandel gegeben - woher dann all diese negativen Folgen?
     
  17. RaMa

    RaMa New Member

    hihi, zuviel?

    doch etwas zuwenig...

    ra.ma.
     
  18. Convenant

    Convenant Haarfestiger

    Wie täte hier jetzt unser bewunderter Alfred Tetzlaff sagen: Die Sozn, die Sozn sind an allem schuld...
    :)
     
  19. Giadello

    Giadello New Member

    MMF:

    Shell-Studie naja, aber die K-Statistik lasse ich gelten ;-) ...
    Und die "Partikularisierung", auch gerne "Atomisierung" genannt, ist ein soziales Faktum. Gerade deshalb sind Pauschalurteile verboten und Generalisierungen so schwierig ...
     
  20. Giadello

    Giadello New Member

    benji:
    Na na ... so ganz themenarm, wie Du es Convi zu verkaufen versuchtest, war zumindest unser Gespräch net. Der materialistische Teil Deines Kritikversuches war da nur ein Aspekt.
    Zu diesem ein Abschlußversuch: wenn Du Deine Bekannten nicht länger als repräsentativen Teil der Gesamtgesellschaft siehst, die es zu analysieren und kritisieren gilt  dann ist Deine Kritik an deren Geldliebe durchaus nachvollziehbar.
    Die Allergie tritt nur dann auf, wenn Du Deine Beobachtungen zu sehr verallgemeinerst. Und selbst wenn Du derjenige wärst, der der das Thema "Wertezerfall" am Wichtigsten nimmt  ohne grobe Pauschalisierungen, die man wie einen Generalverdacht anwendet, kann man sich ganz unaufgeregt unterhalten.

    Da wo Gesellschaft konkret wird, ist sie immer nur ein Teil. Alle Urteile, die Du darüber fällst, werden ehrlicher und nachvollziehbarer, wenn sie auch als partielle Beschlüsse gekennzeichnet werden.
    Natürlich sind wir alle tätige Einzelteile der Gesamtgesellschaft  und sollten zum Gemeinwohl beitragen, uns aber mindestens nach dem Kantschen Imperativ betragen. Da sehe ich uns in der gleichen Verantwortung wie Du.

    Wie Verbrechen entstehen ... ernsthaft? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich nie ganz warm werden konnte mit der Gesellschaftsthese. Denn soziale Prägung ist für mich nur ein Teil dessen, was das menschliche Seelenleben ausmacht, wie ich oben bei der Gerechtigkeit schon ausführte. Vieles von dem, was Convi über Zivilisation geschrieben hat, sehe ich ähnlich.

    Ein letztes Wort zu Gerechtigkeit: natürlich ist Pacals Tod nicht gerecht. Wie sollte er auch? Auch wenn das Gerechtigkeitsgefühl subjektiv ist, gibt es gesellschaftsweite Übereinkünfte. Unter anderem werden Leid und Tod, wenn sie Schuldlose treffen, als ungerecht empfunden.
     

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